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Kinderfreundliche Schulen für Unicef

Vasquez Elfenbeinküste
Vasquez Elfenbeinküste
Vasquez Elfenbeinküste

„Jede Schule ist einmalig“

Bildung schafft Zukunft – Dass dies Realität werden kann, dazu braucht es vor allem Schulen. Auf der ganzen Welt ist der Zugang zu Schulen vielerorts noch nicht gewährleistet. Vor allem die afrikanischen Länder südlich der Sahara sind betroffen, wo etwa jedes dritte Kind nicht zur Schule geht. Hier engagiert sich „Schulen für Afrika“ u.a. mit dem Bau von Schulen. Diese Schulen haben den Anspruch, die Schüler durch ein kindgerechtes Lernumfeld auch dort zu halten. Denn in vielen bestehenden Schulen leiden die Kinder unter Hitze, ungenügenden Hygiene-Bedingungen oder zu wenig Freiraum – Es sind Schulen, die ohne ausreichendes Konzept entstanden sind. An der optimalen Schule arbeitet die UNICEF-Initiative “Child Friendly Schools” (CFS). Der chilenische Architekt Carlos Vasquez ist einer von vielen CFS-Mitarbeitern. Täglich tüftelt er an kind-und ortsgerechten Lösungen für den perfekten Ort zum Lernen: Dazu gehören alternative Baustoffe, Erfahrungen mit den Menschen vor Ort und der Wunsch, Kindern das Lernen nicht nur zu ermöglichen, sondern auch leichter zu machen. Carlos Vasquez erzählt:

_Archimag [am]: Wie sind Sie zu UNICEF und den „Child Friendly Schools“ gekommen?
_Carlos Vasquez [cv]: Seit über drei Jahrzehnten ziehen sich Architekten immer mehr aus der sozialen Verantwortung ihres Berufes und ihrer Rolle in der Gesellschaft zurück. Als ich 1988 zu studieren begann, hat mich gerade die soziale Dimension von Architektur interessiert. Die ersten 15 Jahre habe ich mich Projekten wie Gesundheitscentern für alleinstehende HIV-infizierte Mütter, Schulen, Obdachlosen-Heimen und sozialem Wohnungsbau gewidmet -viele der Projekte waren in der Bronx oder in Brooklyn. Meine Leidenschaft für Geschichte, Photographie und Reisen führte dazu, dass ich auch Projekte realisierte, die nicht Architektur per se waren. 1994 fuhr ich nach Ruanda, um den Genozid zu dokumentieren. 2001 war ich drei Monate in Nordafrika, um dort nach Verbindungen zwischen Nordafrika, Südspanien und Lateinamerika zu suchen – Architektur war eine! Ich bin zu UNICEF gegangen, weil ich hier meine Erfahrungen in eine bessere Lebensqualität von Kindern investieren kann. CF-Schulen zu bauen, ermöglicht politische Einflussnahme und verbessert das Bildungsumfeld für Kinder, die keinen oder wenig Zugang zu Bildung haben. Bei UNICEF arbeite ich an innovativen und kreativen Wegen, um ein möglichst effektives Design für gesündere und sicherere Lernumfelder zu entwickeln.

Kinderfreundliche Schulen für Unicef
Kinderfreundliche Schulen für Unicef

_am: Was ist die grundlegende Idee hinter CFS?
_cv: Die Antwort ist sehr einfach: CF-Schulen setzen das Kind in den Fokus jeder Entscheidungsfindung. Darüber hinaus ist CFS ein Ansatz, der auf Grundrechten basiert: Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung! Heute haben über 100 Millionen Kinder keinen Zugang zu Schulen. Viele Kinder haben noch nie eine Schule gesehen, und viele werden nie eine sehen. Indem man die Bedürfnisse von Kindern ins Zentrum von politischen Entscheidungen oder von Entscheidungen über die Schularchitektur stellt, kann man das Leben der Benachteiligten grundlegend verändern. Die Staaten müssten nur einen Bruchteil ihrer finanziellen Ressourcen für Bildungsprogramme aufwenden, um ein anderes Lernumfeld zu bieten: alters-und geschlechtergerechte Sanitäranlagen, bewegliche Möbel, ausreichende Beleuchtung, Ventilation und so weiter. CF-Schulen sind ein Ort zum Lernen und nicht ein Platz, wo Erwachsene ihren Job machen.

_am: CFS-Projekte gibt es auf der ganzen Welt. Was sind die Unterschiede, und was die Gemeinsamkeiten von Land zu Land?
_cv: Eine der Säulen von CFS ist etwa: die Architektur soll die lokalen Bedingungen reflektieren, um für die Schüler von Relevanz zu sein. Wir glauben, dass Kinder auch außerhalb des traditionellen Textbuches lernen, indem sie etwa mit der Architektur der Schule interagieren, auf Freiflächen und innerhalb der Gemeinschaft. Wir haben 5 Grundelemente, die eine Schule zur Schule machen:
1. Klassenräume: ausreichend Licht, frische Luft und Notausgänge
2. Zugang zu Wasser und Sanitäranlagen: Trinkwasser und Hygiene sind ein Muss
3. Lehrerzimmer: der Lehrkörper braucht eigene Räume für den persönlichen Gebrauch
4. Freiflächen: Gemüsegärten, Sportfeld, Spielplatz
5. Zaun: der Zaun schützt die Schule und auch die Schüler Diese Komponenten können verschiedene Ausprägungen haben, um den lokalen Bedingungen vor Ort gerecht zu werden.

Kinderfreundliche Schulen für Unicef
Kinderfreundliche Schulen für Unicef

_am: Was sind die Herausforderungen beim Bau einer Schule in Afrika?
_cv: Der afrikanische Kontinent hat eine der höchsten Entwaldungsraten der Welt. Außerdem betrifft der Klimawandel Millionen von Menschen: Wüstenbildung, Dürren und Flutkatastrophen werden mehr. Ernährungssicherheit wird dadurch noch wichtiger. Diese Themen spielen auch für die Architektur und den Bauprozess eine wichtige Rolle. Das vorhandene Baumaterial entscheidet manchmal darüber, was wir machen können: In Somalia ist z.B. kein Baumaterial erhältlich, weshalb Transport und Logistik ein Schlüsselelement bei der Planung sind. Madagaskar hat mehr als 90% seines Waldes verloren: Alternatives Baumaterial oder Bauweisen zu finden ist der Umwelt zuliebe wichtig, aber auch um ein nachhaltiges und verantwortliches Bauprojekt zu entwickeln.

_am: Welche persönlichen Erfahrungen machen Sie vor Ort, wenn Sie Schulen bauen?
_cv: Schulen haben einen enormen emotionalen und psychologischen Einfluss auf Gesellschaften, die von Naturkatastrophen und Bürgerkriegen betroffen waren. Die Schule ist dort ein Symbol der Hoffnung und Veränderung zum Besseren. Statistiken zeigen, dass die ärmsten Gesellschaften einen großen Teil ihres Einkommens in Bildung investieren. Das war meine erste Lektion. In Thailand haben wir eine klare Kausalkette zwischen ungenügenden Sanitäranlagen und Kindern mit Blasenproblemen festgestellt. Die Schüler gehen dann 8 Stunden nicht zur Toilette und warten, bis sie nachhause gehen können. Innerhalb des Schulprojekts dort bauten wir neue Toiletten in 120 ländlichen Gegenden, die vom Tsunami oder der Finanzkrise betroffen waren. Als wir 2009 im vom Bürgerkrieg zerstörten Guinea waren, tanzten und weinten die Leute, denen wir die Pläne der Schulen zeigten. Die Idee war es, Schulen zu ihnen zu bringen und nicht nach 20 Jahren Bürgerkrieg die Menschen umzusiedeln. Schulen signalisieren dort einen Neuanfang für ihre Kinder und die lokale Gemeinschaft. In Myanmar hat sich eine ganze Gemeinde während des Zyklons Nargis in eine neue Schule geflüchtet – traditionell sucht man im Tempel Zuflucht! Im Juli 2009 flüchteten die Gemeinde und Mönche vor einem starken Sturm in die Schule. Die Schule bedeutet viel mehr als nur Schulbücher, sie ist Teil der psycho-sozialen Landkarte jedes Gemeindemitglieds.

_am: Sie sehen Schulen auf der ganzen Welt: Wie beeinflusst dies die Arbeit?
_cv: Ich und meine Erfahrungen sind Teil des Ganzen: nationale Standards, Beteiligung, Bedürfnisse von Kindern, lokale Architektur, Baukonstruktion, soziale Themen usw. Ich lerne von jeder Schule, die ich besuche und von jedem Gespräch mit den lokalen Zimmerleuten und Maurern. Jede Schule ist einmalig, und jedes Lernumfeld reflektiert die Geschichte und Kultur des Ortes. Jede Gesellschaft wird ihre Schule individuell bauen. Die alte Art Geschäfte zu machen, also ein Schulmodell für jedes Land, bezahlt von einer Institution, das funktioniert nicht mehr. Schulen sind einzigartig, weil sie die lokalen Traditionen und Lebensgewohnheiten reflektieren. Unsere Verantwortung liegt darin, die Bemühungen der Gemeinden vor Ort zu unterstützen.

_am: Wie gehen Sie mit dem Thema Nachhaltigkeit um?
_cv: Nachhaltigkeit ist ein Kern-Anliegen -es ist ein moralisches und ethisches Thema. Menschliches Tun ist der Hauptauslöser für den Klimawandel, und neue Technologien und Innovationen müssen Teil unserer täglichen Entscheidungen sein. In Myanmar haben wir gerade 49 Schulen gebaut -aus komprimierten Erdblöcken, die man ineinander verzahnen kann. Die Schulen sind flut-und erdbebenresitent. Außerdem ist die CO2-Bilanz jeder Schule um 200% gesunken -verglichen mit einer konventionellen Schule. Mit dieser Technologie kann man Unmengen an Wasser,Kiesel, Zement, Öl und Ziegelstein einsparen. Alleine Bangladesh stößt jährlich mehr als 8 Milliarden Tonnen CO2 bei der Herstellung von Ziegelsteinen aus. In diesen Ziegelbrennereien arbeiten vor allem Kinder -bei 7,5 Millionen Kindern, die in Bangladesh arbeiten müssen, kein Wunder.

Zimmermaenner Liberia
Zimmermaenner Liberia

_am: Wie haben Sie Ihre eigene Schulzeit erlebt?
_cv: Ich habe meine ganze Schulzeit in Chile verbracht. Das System war sehr streng und basierte auf dem europäischen Schulsystem, wie es in den meisten Entwicklungsländern der Fall ist. Der Unterricht war eher eine Übertragung von Informationen: Ein Erwachsener gab feststehende Informationen an eine Gruppe Kinder weiter. Der Stundenplan hatte die europäische Geschichte auf der Agenda, nicht etwa die großen Kulturen Lateinamerikas: Inkas, Mayas und Atzteken. Das Fach hieß “Weltgeschichte”, obwohl es klar eurozentrisch war. Auch die Infrastruktur war dazu da, Autorität und Gehorsam unter den Schüler zu erzeugen. Die Bedürfnisse der Kinder wurden nicht berücksichtigt. In meinem ersten Jahr als Architektur-Student in New York habe ich mich gefragt, warum auch die Architekturgeschichte zu 90% den Fokus auf europäische Architektur setzte. Natürlich ist die Renaissance eine wichtige Bewegung, aber sie passierte tausende Jahre, nachdem in Nordafrika die Pyramiden gebaut wurden. Um die Aufmerksamkeit eines Kindes zu bekommen, muss seine Ausbildung relevanter sein und mehr bedeuten als Bücher und monatliche Klassenarbeiten.

_am: Haben Sie Kinder? Welche Erfahrungen machen Sie mit ihnen?
_cv: Wir haben gerade ein 3jähriges Kind aus Nepal adoptiert. Meine Frau ist Spanierin, und ich bin Chilene; Kultur wird also eine wichtige Rolle in seiner Ausbildung spielen. Im Zimmer meines Sohnes sind alle Spielsachen so platziert, dass er sie gut erreichen kann. Sein Bett steht am untersten Fenster, und er hat Zugang zum Garten, um in der Natur und mit seinen Freunden zusammen zu sein. Wenn mein Sohn erst einmal zur Schule geht, kann ich Ihnen auch vom ersten Schultag berichten.

Danke für das Interview.

Erfahren Sie mehr unter: http://www.unicef.de/informieren/projekte/-/schulen-fuer-afrika/11774
http://www.educationandtransition.org/category/ask-the-expert/architecture/

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