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Die Verwandtschaft von Architektur und Musik

Im Rahmen meiner Recherche zum dem Artikel letzen Dienstag in dem ich über Herkunft des Ausspruchs „Architektur ist zu Stein gewordene Musik“ nachgedacht habe, bin ich auf einen Textauszug aus EUPALINOS oder der Architekt von Paul Valéry gestoßen. Diese möchte ich Ihnen nicht vorenthalten:

Sokrates

Es gibt also zwei Künste, die den Menschen in den Menschen einschließen, oder vielmehr die das Wesen einschließen in sein Werk und die Seele einschließen in seine Handlungen und in die Ergebnisse seiner Handlungen. So wie unser Körper einstmals völlig eingeschlossen war in die Schöpfung seines Auges und ganz umgeben von dem, was er sah. Durch zwei Künste umgibt er sich also auf verschiedene Arten mit Gesetzen und inneren Willensakten, die sich in dem einen oder anderen Stoff darstellen, im Stein oder in der Luft.

Phaidros

Ich sehe wohl, Musik wie Architektur besitzen jede diese tiefe Verwandtschaft mit uns.

Sokrates

Alle beide erfüllen sie einen anderen Sinn in seiner Ganzheit. Wir entgehen der einen nur durch einen inneren Einschnitt; der anderen durch Bewegungen; und jede von ihnen erfüllt unsere Erkenntnis und unseren Raum mit künstlichen Wahrheiten und mit Gegenständen von vorzüglich menschlicher Bedeutung.

Phaidros

Eine und die andere also indem sie sich unmittelbar auf uns beziehen ohne Zwischenglied, müssten zueinander eigentümlich einfache Beziehungen eingehen.

Sokrates

Ganz richtig. Du sprichst es aus: ohne Zwischenglied. Denn die sichtbaren Gegenstände, welche die übrigen Künste und die Poesie für sich gebrauchen: die Blumen, die Bäume, die lebenden Wesen (und selbst die unsterblichen) hören nicht auf, wenn sie im Werk eines Künstlers vorkommen, sie selbst zu sein und ihre Natur und ihre eigene Bedeutung mit den Plänen desjenigen zu mischen, der sie anwendet, um mittels ihrer seinen Willen auszudrücken. So zum Beispiel setzt ein Maler, welcher wünscht, dass an einer bestimmten Stelle Grün vorkomme, einen Baum dorthin; er sagt damit eine Kleinigkeit mehr, als er im Grunde hatte sagen wollen. Er fügt seinem Werk alle die Ideen hinzu, die von der Idee eines Baumes abgeleitet sind, und kann sich nicht auf das beschränken, was an sich genügt. Er kann die Farbe nicht trennen von irgendeinem Wesen.

Phaidros

Darin liegt der Vorteil und auch das Übel, den wirklichen Gegenständen unterworfen zu sein; jeder von ihnen enthält eine Mehrheit der Dinge für die Menschen und kann eintreten in eine Mehrheit verschiedener Nützlichkeiten für sein Vorhaben … Was du da vom Maler sagst, läßt mich auch an die Kinder denken, von denen ein Pädagoge verlangt, sie möchten nachdenken über Achilles und die Schildkröte und die Zeit feststellen, die ein Held braucht, um dieses schwerfällige Tier einzuholen. Statt nun die Fabel aus ihrem Geist zu verdängen und einfach nur die Zahlen und arithmetischen Verhältnisse zu behalten, stellen sie sich einerseits die geflügelten Füße, andererseits die langsam Schildkröte; sie kriechen nach und nach in beide Wesen hinein, denken das eine, denken das andere; und so schaffen sie zwei Zeiten und zwei Räume, die miteinander unverträglich sind, und geraten niemals in jenen Zustand, in dem es weder Achilles noch die Schildkröte gibt, noch selbst die Zeit; keine Schnelligkeit, aber Zahlen und Gleichungen von Zahlen.

Sokrates

Aber die Künste, von denen wir sprechen, sollen im Gegenteil mittels Zahlen und Zahlenbeziehungen in uns nicht so sehr eine Fabel hervorbringen als vielmehr die heimliche Macht, aus der alle Fabeln hervorgehen. Sie erheben die Seele in die schöpferische Tonart, machen sie widerhallend und fruchtbar. Sie antwortet auf diese stoffliche und reine Harmonie, die sie ihr mitteilen, durch einen unerschöpflichen Überfluß von Auslegungen und Mythen, die sie ohne Anstrengungen erzeugt, und sie schafft aus dieser unwiderstehlichen Bewegung, welche die überlegten Formen und die richtigen Intervalle ihr auferlegen, eine Unendlichkeit eingebildeter Ursachen, die sie in Stand setzen, tausend wunderbar fertige und wie im Guß geschaffene Leben zu leben.

Phaidros

Weder Malerei noch Dichtung haben diese Vorzüge.

Sokrates

Sie haben die ihrigen, gewiß! Diese aber wohnen sozusagen in der Gegenwart. Ein schöner Körper will an sich selbst angesehen sein und bietet uns einen wunderbaren Augenblick: es ist eine Einzelheit der Natur, die der Künstler wie durch ein Wunder festgehalten hat … Aber die Musik und die Architektur lassen uns an etwas anderes denken als an sie selbst; sie sind mitten in dieser Welt wie Denkmäler einer anderen Welt oder vielmehr wie da und dort verstreute Beispiele einer Struktur und Dauer, die nicht den Wesen zukommt, sondern den Formen und Gesetzen. Sie scheinen bestimmt, uns ohne Umweg zu erinnern, die eine an die Bildung des Weltalls, die andere an seine Ordnung und Beständigkeit; sie rufen die Gebilde des Geistes hervor und seine Freiheit, die dieser Ordnung nachgeht und sie wiederherstellt auf tausend Arten; sie vernachlässigen also die besonderen Erscheinungen, mit denen die Welt und der Geist im allgemeinen beschäftigt sind: Pflanzen, Tiere und Leute … Ich habe sogar zuweilen beobachtet, dass, wenn es mir geschah, Musik anzuhören mit einer Aufmerksamkeit, die ihrer Vielgestaltigkeit gleichkam, ich die Töne der Instrumente gewissermaßen nicht mehr als Eindrücke meines Gehöres wahrnahm. Die Symphonie selbst ließ mich den Sinn des Hörens vergessen. Sie verwandelte sich so rasch und so vollkommen in belebte Wahrheiten, in Abenteuer des Weltalls oder in abstrakte Zusammenhänge, dass ich das sinnliche Mittel, den Ton, überhaupt nicht mehr wahrnahm.

Phaidros

Du willst sagen, nicht wahr, dass die Statue an die Statue denken macht, dass man aber bei Musik nicht an die Musik denkt oder vor einem Bauwerk nicht an ein anderes. Gerade deshalb kann, wenn du recht hast, eine Fassade singen. Aber ich frage mich umsonst, wie diese seltsamen Wirkungen möglich sind.

Sokrates

Mir will scheinen, das haben wir schon herausgefunden.

Phaidros

Ich habe nur ein unklares Gefühl davon.

Sokrates

Was haben wir gesagt? – Dem Stein und der Luft verständliche Formen mitteilen; sehr wenig dabei von den wirklichen Dingen entlehnen, die Welt so wenig wie möglich nachahmen; das wäre also das, was die beiden Künste gemein haben.

Phaidros

Ja. Diese Negation haben sie gemein.

Sokrates

Aber nun im Gegenteil wesentlich menschliche Gegenstände hervorbringen; fühlbare Mittel anwenden, die nicht auf Ähnlichkeiten mit fühlbaren Dingen beruhe, die nicht Doppelgänger sind bekannter Wesen; den Gesetzen Gestalt verleihen oder von den Gesetzen selbst ihre Gestalt herleiten – ist auch nicht das Sache der einen wie der anderen?

Phaidros

Ja, auch darin kann man sie vergleichen.

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Autor

Ich bin Architekt und seit 2009 veröffentliche ich archimag.de. Wenn Ihr Wünsche oder Anregungen habt, dann her damit. Ich freue mich über Eurer Feedback.

1 Kommentar Neues Kommentar hinzufügen

  1. Ralph Martin sagt:

    Genre of music : Famous Work of Architecture / Famous Architect

    Jazz : Gaudi

    Classical : The Louvre

    Punk : Frank Gehry

    Techno : Rem Koolhaas

    Rock : Peter Eisenman

    Country :

    Atmospheric ( Phillip Glass ) : Richard Meier

    Rap / Hip Hop :

    When you think of these genres of music, what architecture do you think of?

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